LACRIMOSA – China Tournee 2006

Flug TG 630, den 09. Oktober 2006

Als ich vor vielen Jahren begann, meiner Lyrik eine weitere Dimension zu verleihen, und somit Lacrimosa begründete, wäre es mir niemals in den Sinn gekommen, dass mich diese Musik über die Grenzen meines damaligen, geografischen Umfeldes, das sich von Zürich in der Schweiz bis hin in das deutsche Freiburg zog, hinaus tragen würde. Als mich einige Zeit später das erste Konzertangebot aus dem fernen Leipzig erreichte, konnte ich mir kaum vorstellen, dort ein Publikum anzutreffen, das meine Musik tatsächlich kennen würde. Bald folgten Konzertangebote aus dem gesamten Bundesgebiet und 1993 die Möglichkeit, in Belgien aufzutreten, was mich aufgrund der hauptsächlich deutschsprachigen Texte nicht wenig überraschte. Im Laufe der Jahre durften wir nun in Frankreich, Italien, Polen, Portugal, Spanien, Tschechien und diversen anderen europäischen Ländern auftreten. 1998 spielten wir zum ersten Mal in Mexiko, in den Folgejahren in Argentinien, Brasilien und Chile und jüngst in Russland.
Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, befinden wir uns im Landeanflug auf die Stadt Taipei, in der morgen Abend das erste LACRIMOSA Konzert in Asien stattfinden wird.
Seit dem Abflug in Zürich sind wir nun gute dreiundzwanzig Stunden unterwegs und haben über 11’000 Kilometer zurückgelegt. Neben einem Stab Crewmitgliedern und einigen hundert Kilogramm Instrumente und Bühnenaufbauten, ist es hauptsächlich die Musik, die wir mit uns tragen und der wir es zu verdanken haben, dass wir in Kürze auf der anderen Seite der Erde vor Menschen treten dürfen, mit denen uns die Liebe zur gleichen Musik verbindet. Menschen, die wir noch nicht kennen, deren Seelen aber im gleichen Takt zu schwingen scheinen. Auf diese Begegnungen freue ich mich sehr!

Taipei/Taiwan, Republik China, den 10. Oktober 2006

Da wir gestern spät in der Nacht angekommen sind und heute bereits einige Pressetermine hatten, blieb uns leider keine Zeit, Taipei zu besichtigen. Jedoch konnten wir während der Autofahrten zwischen den Terminen einige Eindrücke von den Straßenbildern sammeln, und diese beeindruckten bereits. Fluten von Motorrollern und Bußen verstopfen jede noch so breite Straße und einmal nahm tatsächlich eine alte Frau auf einem rostigen Fahrrad unserem Buß die Vorfahrt, wir mussten eine Vollbremsung machen und kamen nicht einmal einen halben Meter vor ihr zum stehen, während sie, ohne sich auch nur einmal zu uns umzudrehen, unbeirrt an uns vorbei über die Kreuzung radelte. Perfektioniert wird schließlich das Straßenbild durch die unzähligen, kunstvollen Schilder, Werbungen und Plakate mit ihren grandiosen, chinesischen Schriftzeichen.
In der Konzerthalle angekommen, in der unsere Crew bereits mit dem Aufbau der Bühne und des Lichts beschäftigt war, sollte in wenigen Minuten der Soundcheck beginnen, während ich in den bis dahin verbleibenden Minuten durch die noch leeren Gängen der Konzerthalle spazierte. Schließlich führte mich mein Rundgang in den Eingangsbereich, in dem einige örtliche Aufbauhelfer die Verkaufsstände herrichteten. Zwischen ihnen, wahrscheinlich kommend aus der angrenzenden Shoppingmeile, standen einige Menschen in bunten T-Shirts, luftigen Sommerkleidchen – das Thermometer zeigte knapp 30° – oder schicken Anzügen. Plötzlich entbrannte ein wildes Getuschel, Kameras wurden gezückt und ehe ich mich versah, war ich von diesen gut getarnten Fans umstellt, die mir ihre Lacrimosa-CDs zum signieren entgegen streckten. Ähnliche Erfahrungen, bei denen Menschen mit der gewöhnlichsten Optik unsere Konzerte besuchen, hatten wir schon in Ländern wie Polen, Argentinien oder Mexiko gemacht, aber dass dies auch in einem Land wie Taiwan der Fall sein würde, in dem schmuckvolle Kleidung und außergewöhnliche Haartrachten eine lange und gut gepflegte Tradition haben, überraschte mich doch etwas. Jedoch zeichneten sich allesamt durch eine freundliche und herzliche Höflichkeit aus, die ich als sehr angenehm empfand.

Währenddessen hatte unsere Crew mit dem örtlichen Team sämtliche Konzertvorbereitungen getroffen, was den Umständen entsprechend reibungslos verlaufen war. Den Umständen entsprechend, denn in China sind bislang nur wenige Rockgruppen aus dem Westen aufgetreten und dementsprechend unerfahren sind die örtlichen Crews, wenn es darum geht, ein Rockkonzert mit all seinen technischen Anforderungen auf die Beine zu stellen. In einer Zeitung lass ich in diesem Zusammenhang folgende Zeilen: „Nach dem Konzert der Rolling Stones begrüßt Taipei heute Abend das Deutsch-Finnische Duo Lacrimosa zu ihrem ersten Live-Konzert in China!“ Alleine der Vergleich dieser beiden, in jeder Hinsicht unvergleichbaren Bands zeigt, wie selten westliche Bands in China Konzerte veranstalten und welche Herausforderung dies für die örtlichen Veranstalter bedeutet. Und um, für europäische Verhältnisse frühen 19:30 Uhr ist es dann endlich soweit:

Mein Tourleiter Jörg Zaske bringt mir mein Mikrophone hinter die Bühne. JP, Yenz, Manne, Dirk, Anne und ich fallen uns kräftig in die Arme. Ich gebe Jörg das Zeichen und er lässt das Saallicht ausschalten. Das Publikum Applaudiert. Das Intro startet. Das Publikum wird lauter. Die Jungs betreten die Bühne, der Vorhang wird geöffnet und das Publikum schreit. Anne betritt die Bühne. Die Menschen springen von ihren Sitzen. „Ich bin der brennende Komet“ beginnt und die Zuschauer klatschen euphorisch mit. Ich beginne im Backstage zu singen und betrete wenige Schritte später die Bühne. Unzählbare Kameras blitzen mir entgegen und ich kann nichts sehen, nur höre ich das alles überschreiende Publikum. Unser erstes Konzert in Asien beginnt!

Wir spielen Titel wie „Eine Nacht in Ewigkeit“, „Malina“, „Schakal“ und die Stimmung ist echt und ehrlich und wunderschön. Ich fühle mich geborgen, fühle uns aus dem Publikum viel Herzenswärme entgegen strömen und kann mich dementsprechend wunderbar öffnen und meinen Gefühlen freien Lauf lassen. Als wir den Chorus von „Lichtgestalt“ anstimmen, brechen alle Schranken und die Menschen schreien, tanzen und singen und „Lichtgestalt“ entwickelt eine unerreichte Intensität. Wahnsinn!
Nach knapp zwei Stunden wollen wir das Konzert mit „Alles Lüge“ beenden, und… Überraschung: der Titel scheint nahezu unbekannt. Während Albumtitel wie „Letzte Ausfahrt“, „Vermächtnis der Sonne“ oder „Not every pain hurts“ frenetischer gefeiert wurden, als ich es mir vorstellen konnte, scheint einer unserer beliebtesten Titel in China nahezu unbekannt zu sein. Eine unerwartete aber dadurch umso interessantere Erfahrung!

Um dem Konzert einen angemessenen Abschluss zu geben, spielten wir anschließend „Copycat“, was uns vom Publikum ausgesprochen intensiv gedankt wurde und so endete gegen 21:30 Uhr unser Asien-Debüt auf einer Insel im chinesischen Meer, die sich Taiwan nennt, ein eigenes Parlament hat, jedoch zur Republik China zählt, in einer rekordverdächtigen Bauzeit 2004 den höchsten Turm der Welt fertiggestellt hat, die weltweit höchste Dichte an Motorrollern auf den Strassen seiner Hauptstadt zählt und dessen Bruttosozialprodukt höher als jenes der Volksrepublik China ist.

Hongkong/Volksrepublik China, den 11. Oktober 2006

Einst eine britische Kronkolonie, erfolgte am 01. Juli 1997 die Rückgabe an die Volksrepublik China. Doch genauso, wie die neuen Bundesländer, als sie Deutschland einverleibt wurden, von heute auf morgen nicht ihre Individualität aufgeben konnten und wollten, genauso, wie gewachsene Kultur, Eigenständigkeit und ein entsprechender Lebensstil nicht in einem Moment ausradiert werden kann und darf, so ist auch Hongkong heute noch eine besondere Stadt innerhalb Chinas. Das beginnt damit, dass man zur Einreise nach Hongkong kein Visum benötigt, jedoch ohne Visum die Stadt nicht Richtung China verlassen darf. Nach wie vor herrscht in Hongkong der Linksverkehr vor, englische Steckdosen sind Standart und höhere Posten sind oftmals noch immer von Hongkong-Britten besetzt.

So oft im Fernsehen gesehen und nun stehe ich mitten in dieser Stadt, atme ihre Luft – die im Übrigen doch etwas besser ist, als mir allerorts prophezeit wurde, jedenfalls kommen wir ohne Atemschutz aus – und gehe durch ihre Strassen. Laut, hektisch und doch überschaubarer als vermutet. Doch leider bleiben uns nur eineinhalb Stunden, denn gerade erst aus Taipei gelandet, findet bereits heute Abend die Show in Hongkong statt und wir müssen uns zum Soundcheck aufmachen. Als wir in der Hall ankommen, hält sich die Begeisterung in Grenzen. In Ermangelung an Konzertorten, da diese – wie erwähnt – kaum stattfinden, treten wir in einer Messehalle auf. Akustisch eine Katastrophe und optisch wenig atmosphärisch. Und entsprechend ungemütlich ist der so genannte Backstage: ein riesenhafter Betongang, der neben der Halle verläuft. Aber spannend allemal, zumindest für mich persönlich, da ich aus den Jahren, in denen ich in einer Fabrik arbeitete, noch immer eine gewisse Affinität für derartige Nutzbauten habe. Überraschend ist zudem, dass man die Halle bestuhlt hat und als wir eintreffen, herrscht ein ziemliches Durcheinander und wenig scheint wie geplant zu funktionieren.
Mit einiger Verspätung können wir aber schließlich doch noch einen kurzen Soundcheck machen und wenig später ist die Halle gefüllt und Jörg tritt mit meinem Mikrophone hinter die Bühne, ich gebe das Zeichen, das Intro startet.

Spannend ist nun die Frage, ob die Menschen hier in Hongkong ähnlich agieren und reagieren, wie in Taipei. Ist das chinesische Publikum allerorts ähnlich, oder werden sich die Menschen hier von jenen in Taipei grundlegend unterscheiden? Was wird uns erwarten? Das Intro beginnt die Messehalle zu beschallen und ein emotionaler Orkan bricht über uns herein. Während die Taiwanesen anfangs eine gewisse Zurückhaltung zeigten – die allerdings zugegebener Massen von einem sehr hohen Level ausging und nicht lange anhielt – stürzen sich diese Menschen hier von der ersten Sekunde in die Musik und schütten ihre Emotionen vor uns aus. Ein gewaltiges Konzert nahm im Weiteren seinen Lauf, in dem wir von dankbaren Herzen von einem Höhepunkt zum anderen getragen wurden. Unter diesen Umständen war es ein reines Vergnügen, diesem Publikum auf der Bühne sein ganzes Herz zu öffnen und trotz aller Begeisterung blieb die Atmosphäre stets deutlich disziplinierter, als dies in Ländern wie Russland, Chile oder Mexiko der Fall ist, in denen die Menschen ebenfalls sehr emotional auf unsere Musik reagieren, diese Gefühlsausbrüche aber oft unkontrollierbar werden – wobei ich weder das eine, noch das andere Verhalten werten möchte, denn es sind Ausdrucksformen als Teil des kulturellen Erbe eines Landes und somit immer spannend zu erleben.

Jedenfalls hatte wohl diese Disziplin, sowie die Tatsache, dass der chinesische Tag im Vergleich zu unseren Gewohnheiten früher startet und somit auch früher endet – die durchschnittliche Schlafenszeit liegt bei 21:30 Uhr, während man zum Beispiel in Italien zu dieser Zeit noch nicht einmal beim Abendessen sitzt – zur Folge, dass wir bereits eine Stunde nach Beendigung des Konzertes nahezu unbehelligt die Halle verlassen und noch einmal in das Zentrum fahren konnten, um diese beeindruckende Stadt im Glanz ihrer nächtlichen Lichter bewundern zu können. Anschließend fuhren wir hinunter zu jenem eindrucksvollen Hafen Hongkongs, in dessen Beuge – wie es scheint, so ganz nebenbei – das weltweit vierthöchste Haus seine Lichter über das Wasser, in die Ferne treiben lässt.

Peking/Volksrepublik China, den 12. & 13. Oktober 2006

Und leider klingelt der Wecker mal wieder viel zu früh, wir werden zum Flughafen gebracht, drei Stunden Flug nach Peking und am späten Vormittag reisen wir in die chinesische Hauptstadt ein. Jene Stadt, in der 2008 die Olympischen Spiele stattfinden werden, und jene Stadt, in der 1989 auf dem Platz des himmlischen Friedens Panzer der chinesischen Armee auf demonstrierende Studenten schossen und dabei hunderte von ihnen getötet wurden.
Hinter der Immigration im Flughafen, während man auf seine Einreiseerlaubnis wartet, fällt zunächst eine kunstvoll bemalte Wand ins Auge. Doch zeigt dieses mächtige Gemälde die chinesische Mauer. Jener Verteidigungswall, der 215 v. Chr. erbaut wurde und seither dafür Sorge trug, dass keine Fremden das Chinesische Reich betreten konnten. Und plötzlich scheint dieses Gemälde in der Immigrationshalle weniger ein einfaches Kunstwerk zu sein.

Kaum im Hotel angekommen, werden wir zu einem edel ausgestatteten Restaurant gefahren, in dem ein kleiner Saal für uns hergerichtet wurde. Dort wird uns schließlich eröffnet, dass wir nun in den Genus der echten Peking-Ente kommen werden. Und während wir die Vorspeisen genießen, erfahren wir, dass weltweit nur wenige Köche eine echte und speziell gezüchtete Peking-Ente zubereiten dürfen. Die Ausbildung dauert insgesamt zehn Jahre, und während dieser Jahre lernt der Koch alleine dieses eine Gericht zuzubereiten, wobei er die ersten fünf Jahr lediglich zuschauen darf, um den Geist dieser hohen Kunst zu erfassen, als auch zu erlernen, wie die Ente im Ofen gebacken werden muss, um ihren unverwechselbaren Geschmack entwickeln zu können, und schließlich wie die Ente in genau 108 exakt gleich große Stücke geschnitten werden muss, so dass jedes Stück die gleiche Menge Haut, Fett und Fleisch enthält. In den folgenden fünf Jahren lernt er die praktische Umsetzung dessen, jedoch niemals für und vor Gästen. Erst nach Abschluss dieser zehn Lehrjahre darf der ausgelernte Koch eine echte Peking-Ente zubereiten, und wir sind uns alle einig: der Aufwand lohnt sich!
Anschließend werden wir zu einem Convention-Center gefahren, in dem eine Pressekonferenz für das chinesische Fernsehen, verschiedene Radiostationen, Magazine und dem chinesischen Lacrimosa-Fanclub stattfindet. Auch hier zeigen sich die Menschen sehr höflich, doch auch merklich bestimmter in ihrem Auftreten und dem Weg, das erwünschte Ziel zu erreichen. Und nicht nur während dieser Begegnungen war deutlich zu erkennen, die Menschen in Peking sind freundlich im Umgang, aber bestimmt in der Sache.
Nach einem Kurzbesuch zu der verbotenen Stadt, dem imposanten Parlament und dem Platz des himmlischen Friedens, lädt uns das Team des Veranstalters zu einem kleinen See inmitten der Stadt ein, dessen Ufer von unzähligen und sehr kuscheligen Bars gesäumt ist.

Nach einer besonders kurzen Nacht beginnt der nächste Tag erneut mit Presseterminen. Anschließend werden wir zum Konzert-Venue gebracht, in dem bereits unsere Crew damit beschäftigt ist, mittels Übersetzern die technischen Probleme mit den örtlichen Gegebenheiten halbwegs in den Griff zu bekommen. Und dabei ist es nicht einfach nur damit getan, ein Mikrophon auf die Bühne zu stellen und ein paar Gitarren anzuschließen. Vielmehr arbeitet eine Crew von morgens bis weit, nachdem das Konzert am Abend beendet ist und Publikum und Band bereits am Feiern sind, hart daran, um ein jedes einzelne Konzert überhaupt möglich zu machen. Und diese Aufgabe wird nicht leichter in einem Land, in dem bislang kaum Rockkonzerte stattgefunden haben, keine Erfahrungswerte oder ein technisches Verständnis für die Materie besteht und ein Grossteil der örtlichen Ansprechpartner kein englisch spricht.
Doch zum ersten Mal während unserer China-Tour handelt es sich nicht um eine zweckentfremdete Halle, sondern um einen zweistöckigen Rock-Club, welchen man jüngst renoviert und zu einem Konzert-Venue umgebaut hatte. Nur war dies bislang leider nackte Theorie, denn mit dem Lacrimosa-Konzert sollte an diesem Abend der „Melody Club“ für seine neue Bestimmung erst eingeweiht werden.
Als ich meinem Tourleiter das OK zum Start des Intros gebe, spüre ich eine merkwürdige Nervosität in mir. Auf einmal, wie aus dem Nichts und obwohl wir bislang äußerst erfolgreiche Konzerte auf dieser Tour gespielt hatten, überkam mich plötzliches Lampenfieber, und als unser Konzertintro von der schreienden Menge überschallt wird, fängt mein Herz noch schneller an zu klopfen. Aber es hilft nichts. „Ich bin der brennende Komet“ beginnt und ich muss auf die Bühne. Und was dann geschieht, kann ich kaum in Worte fassen: die Menschen begrüßen mich mit Rosenblättern, die sie auf mich regnen lassen. Selten hat sich innere Unruhe so schnell in Wohlgefühl verwandelt und trotz Müdigkeit der vergangenen Tage und technischer Probleme auf der Bühne katapultiert uns die Energie des Publikums in magische Sphären und zusammen mit dem ausverkaufte „Melodie Club“ erleben wir ein unvergessliches Konzert!
Die Stimmung wird etwas gedämpft, als ich nach dem Konzert erfahre, dass wir noch einen weiteren Pressetermin wahrnehmen müssen, doch gestaltet sich dieser entspannter als befürchtet und ein nächtlich verlockendes Peking verschluckt anschließend uns feiernden Europäer.

Schanghai/Volksrepublik China, den 14. & 15. Oktober 2006

Selten habe ich eine Stadt gesehen, deren Architektur mich mehr fasziniert hatte. Zwar könnte ich mir kaum vorstellen, hier zu leben, doch glaube ich kaum, dass ich jemals wieder derart staunen werde, wenn ich eine neue Stadt besuche. Angefangen damit, dass sämtliche Brücken – von denen es in Schanghai nicht wenige gibt – mit dichten Pflanzen gesäumt sind und somit einen schönen Kontrast zwischen dem grauen Beton und dem saftigen Grün des lebenden Gewächs bieten, bis hin zu den ebenso kontrastreichen Ufern des die Stadt teilenden HuangPu River. Das Westufer erzählt von der Historie der Stadt. Viktorianische Prunkbauten zeugen von dem Reichtum der seit jeher geschäftigen und wichtigen Handelsmetropole und den vielen europäischen Kaufleuten und deren Niederlassungen. Die Ostufer scheint aus einem Science-Fiction-Film entliehen und irgendwie nicht von dieser Welt. Futuristischste Türme und Hochhäuser, soweit das Auge sehen kann und mittendrin das fünfthöchste Gebäude der Welt, von dessen Aussichtsplattform der beeindruckte Besucher einen unvergleichlichen Blick über diese riesenhafte, vierzehnmillionen Einwohner zählenden Stadt bekommt. Direkt daneben sieht man, neben vielen weiteren Baustellen, einen mächtigen, im Bau befindlichen Turm, der bis 2008 den bislang weltweit höchsten in Taipei überragen soll und in dessen Mitte eine 10×10 Meter große Stahlkugel aufgehängt werden soll, die die in dieser gefährdeten Gegend durch ein Erdbeben auftretenden Schwingungen entgegenwirken und so das Einstürzen des Gebäudes verhindern soll. Ein architektonisches Meisterwerk, wie alles was man hier sehen kann, doch dessen Ökonomie fraglich und für die Erbauer wohl eher zweitrangig ist.
Verborgen unter den Hochhäuser entdeckten wir schließlich unberührte Viertel aus flachen, steinernen Häusern mit hölzernen Dächern, die zwischen ihren vom Verfall gezeichneten Fassaden enge Straßenschluchten bilden, in denen die Einheimischen den Verkauf ihrer Waren – Krebse, Tücher und Gewürze – anbieten, oder einfach nur auf Schemeln oder auf dem Pflaster sitzen und die Zeit verstreichen lassen. Die meisten jener Häuser haben keine Türen und die Einsichten, die sich uns offenbarten, waren erschreckender als die erschütternste Armut, die ich in den Slums von Mexiko und Brasilien gesehen hatte. Und wenige Blocks weiter steht ein weißes Hotelhochhaus mit dem Namen „The Majestic“.

Nach diesen kaum fassbaren Eindrücken folgten an diesem Tag eine weitere Pressekonferenz mit anschließender Autogrammstunde, wobei sehr erfrischend zu erleben war, dass ein Grossteil der Journalisten tatsächlich auch allgemeine Musik- und im speziellen auch Lacrimosa-Fans sind, wobei auch hier – und dies war selbst bei Mitgliedern des Lacrimosa-Fansclubs zu ersehen – die Gothic-Kultur noch an ihren Anfängen steht. So schrieb der SHANGHAI DAILY am 14. Oktober: „Die morgen in Schanghai endende Lacrimosa Tournee ist der erste Major-Gothic-Event in China!“ In einem Land, in dem jährlich nur eine gewisse Anzahl Tonträger veröffentlicht werden darf und davon jede Produktion zuvor durch die Zensur muss, hat Musik, fernab vom Mainstream, einen schweren Stand. Zwar können wir die Menschen nicht aus ihren oftmals schwierigen Verhältnissen holen, aber wir können ihnen etwas Seelennahrung durch unsere Musik geben. Und das dem so ist, zeigte uns das Publikum erneut in der abermals ausverkauften „He Luting Concert Hall“, einer altehrwürdigen Konzerthalle, in der zuvor noch nie ein Schlagzeug gestanden hat, eine Gitarre verzerrt wurde oder ein Sänger von Schakalen, Stolzen Herzen und Lichtgestalten gesungen und geschrieen hat. Und gerade diese Titel lösten erneut eine Stimmung, die mir in einem Fall durch die Tiefen meiner Seele drang, im nächsten nahezu die Tränen in die Augen trieb und in letztem eine derartige Energie entfachte, dass das Publikum trotz der anerzogenen Disziplin, trotz der umsichtigen Ordner und trotz der eindringlichen Ansage vor Konzertbeginn, diesen ehrenwerten Saal nicht zu beschädigen, kaum noch zu halten war, und plötzlich sind wir alle entrückt und zusammen erstürmen wir die Zwischenwelt…

Als wir am nächsten Tag auf die gigantische NanPu Bridge, die sich über den HuangPu River erstreckt, fahren, deren Auffahrt alleine einen Kreisel mit einem geschätzten Durchmesser von nahezu einem halben Kilometer beschreibt und sich über diese auf eine beeindruckende Höhe schraubt, bricht es aus JP heraus: „Wenn ich noch einen einzigen Eindruck aufnehme, platzt mein Gehirn. Mein Chip ist voll!“, und damit spricht er aus, was wir alle empfinden. In diesen wenigen Tagen haben wir so viele Eindrücke gesammelt, die noch einige Wochen der Verarbeitung bedürfen. Angefangen bei dem Gigantismus der prestige- und geschichtsträchtigen Architektur; den meist ausgezeichneten, kulinarischen Genüssen, solange man nicht auf die Idee kommt, in der Sonne verdorbenen Hund aus einem Straßenwok zu essen; über die inspirierenden, zwischenmenschlichen Begegnungen, die mit Worten, Gesichtern und Gefühlen verknüpft und für immer unauslöschlich sind; bis hin zu den emotionalen und schwer in Worte zu fassenden Erlebnissen auf den Bühnen, die wir als die schönsten Geschenke mit uns nach Hause nehmen!

Und dann war es soweit, wehmütig stiegen wir vor gut fünfundzwanzig Stunden in den Transrapid, der zwischen Shanghai und dem dortigen Flughafen pendelt, und machten uns auf die Heimreise, wohl wissend, dass dies nach Konzerten in Deutschland, Belgien, Rumänien und Russland, die letzten Lacrimosa-Konzerte im Jahr 2006 waren.
Umso glücklicher bin ich jetzt, dass wir seit Beginn der „Lichtgestalt-Tour“ im Mai 2005, konsequent und mit oftmals großem Aufwand in sechzehn Städten, in acht Ländern und auf drei Kontinenten die verschiedensten Konzerte mitgefilmt und ausgiebige Reise- und Backstage-Aufnahmen gemacht haben, die, wenn der gesamte Film voraussichtlich im Frühjahr 2007 fertig geschnitten sein wird, die letzten anderthalb Jahre Lacrimosa auf Tour dokumentieren und uns als schöne Erinnerung dienen werden.