Lacrimosas Zentral- & Südamerkia Tour 2004

Zweieinhalb Jahre ist es inzwischen her, dass wir in Monterrey das letzte Konzert unserer „Fassade-Tour“ gespielt haben. Zweieinhalb Jahre, in denen wir keine Bühne betreten haben. Zweieinhalb Jahre, während derer wir keinen Nightliner unser Zuhause nannten. Zweieinhalb Jahre, in denen wir keine fremden Länder betourten und zweieinhalb Jahre ohne unser Publikum. Warum? Ich denke, man sollte im Leben immer alles geben und keine halben Sachen anbieten oder in Empfang nehmen. Unsere Gesellschaft bietet bereits genügend Angebote zweifelhafter Qualität. Lieber warte ich einige Wochen, Monate oder zuweilen auch Jahre, um mich einer Sache zu widmen und mich dieser voll und ganz hinzugeben, als dass ich einem kurzfristigen Sachzwang, einem vorherrschenden Trend oder schlicht dem Zeitgeist nachgebe, und zugleich die Gewissheit habe, dass ich derzeitig weder das erwünschte Ziel erreichen, noch mit dem Erreichten zufrieden, noch langfristig davon erfüllt sein werde. Dies weiss und sagt mein Verstand. Erschwerend kommt jedoch hinzu, dass ich, vorsichtig ausgedrückt, ein recht ungeduldiger Mensch bin. Daher muss ich gestehen, dass ich die Nightliner, die Bühnen und das Publikum oftmals mehr als nur vermisst habe. Trotzdem war es eine richtige Entscheidung, nach nahezu fünf Jahren permanenter Studioarbeit und andauerndem Tourleben, wenigstens in zweitem eine Pause eingelegt zu haben, da ich es mir kaum verzeihen könnte, auf der Bühne zu stehen und dem Publikum nicht mein Alles zu geben!

 

ABREISE
Heute morgen bin ich aufgewacht und hatte den Chorus von „Malina“ im Kopf. Es ist Samstag, der 24. Juli 2004, und heute werden wir uns von Hamburg aus auf den Weg machen, diesen und einige andere Titel unseres aktuellen Albums „Echos“ zum ersten Mal live auf der Bühne zu präsentieren. Eingebunden sind diese in eine Setliste, die zu schreiben eine besondere Faszination auf mich ausübte, ist es doch ein Segen, nach all den Jahren aus dieser reichhaltigen Musikgeschichte Lacrimosas schöpfen zu dürfen:

Intro/Lacrimosa-Theme
Schakal
Malina
Alles Lüge
Vermächtnis der Sonne
Apart
Der Morgen danach
Halt mich
Alleine zu zweit
Seele in Not
The turning point
Kabinett der Sinne
Ich verlasse heut‘ Dein Herz
Durch Nacht und Flut
Not every pain hurts
Versiegelt glanzumströmt
Darkness
Ich bin der brennende Komet
Am Ende stehen wir zwei
Copycat
Stolzes Herz

Es ist 14:00 Uhr und im Terminal 1 des Hamburger Flughafens finden sich nun langsam all die Menschen ein, mit denen Anne Nurmi und ich die kommenden Tage Tisch, Bühne, Freud und Leid teilen werden: Jay P. und Sascha Gerbig an den Gitarren, AC am Schlagzeug und Yenz Leonhardt am Bass. Olaf Leymann, technischer Leiter und am Mischpult als akustischer Brückenbauer zwischen Band und Publikum tätig. Elmar Packwitz als Verantwortlicher für die Technik des In-Ear-Monitoring und dessen Mischung. Michael Grossmann überwacht den Aufbau unserer Bühnendekoration und setzt uns während des Konzertes ins rechte Licht. Peter Hablick und Oliver Grassmann, die für den technischen Aufbau der Bühne und die Koordination der örtlichen Stage-Hands verantwortlich sind, und natürlich Frank Dehn, unser Tour- und Produktionsleiter, der sich um alle organisatorischen Fragen kümmert, den Musikern den Rücken frei hält und gegenüber den lokalen Veranstaltern und deren Mitarbeitern unsere Konzertagentur All Access vertritt. Ab morgen wird Frank zudem von Miriam Hinds unterstützt, die ihm als Brasilianerin mit lateinamerikanischen Understatement zur Seite stehen wird. Und während wir in Hamburg auf unseren Abflug warten, treffen wir meinen lieben Freund Eric Burton von Catastrophe Ballet, der wenig später nach München fliegen wird. Zu gerne hätten wir ihn einfach eingepackt und mitgenommen!

Einige Zeit später sitzen wir im Flugzeug nach Frankfurt am Main. Dort angekommen heisst es dann Flugzeugwechsel Richtung Madrid, wobei sich dieser unerwartet schwierig gestaltet, da die Check-In Computer unserer Fluggesellschaft ausgefallen sind und der Boarding-Pass eines jeden einzelnen Passagiers von Hand ausgestellt werden muss! Willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert! Mit zweistündiger Verspätung geht es also Richtung Spanien, und zwei weitere Stunden später befinden wir uns im Landeanflug auf Madrid.

Hier sind es 34°C und ich will es kaum wahr haben, dass wir gleich in den Anschlussflieger Richtung Santiago de Chile steigen werden, das sich auf der südlichen Halbkugel befindet, auf der zu dieser Jahreszeit der Winter regiert. Nichts gegen den Winter! Im Gegenteil! Aber bitte alles zu seiner Zeit und alles am rechten Ort! Und Juli klingt für mich nach Sommer, und Chile klingt nach sonnigen Plantagen, guten Weinen und faszinierender Natur, und nicht nach halbseidenem Winter! Ja, ich weiss… eine sehr europäische Sichtweise! Wir werden ja sehen! Ankommen sollten wir in Santiago de Chile morgen früh gegen 8:00 Uhr örtlicher Zeit, 14:00 Uhr mitteleuropäischer Zeit. Zweiundzwanzig Stunden werden dann seit unserem Abflug in Hamburg vergangen sein. Angesichts dessen bestelle ich mir nun einen Rotwein und vertiefe mich in Hermann Hesses „Steppenwolf“, während unser Flugzeug in die Nacht eintaucht…

SANTIAGO DE CHILE
Grauer Himmel, 9°C und nasskalt Wind: willkommen in Chile! Nachdem die Emigrationsformalitäten abgeschlossen und die Arbeitsgenehmigungen überprüft sind, werden wir von Miriam und Gustavo, dem örtlichen Veranstalter, in Empfang genommen.

Im Hotel geht es zuerst an das sich von der uninspirierten Flugzeugverpflegung deutlich unterscheidende Frühstücksbuffet und anschliessend in den Pool! Am Nachmittag wartet mitgebrachte Arbeit auf mich, während unsere Techniker in der Halle mit den Vorbereitungen des morgigen Konzertes beginnen. Am Abend treffen wir uns, um von der einheimischen Küche verzaubert und den örtlichen Weinen verwünscht zu werden.

Am nächsten Tag, Montag, den 26. Juli ist es dann so weit! Wir fahren zur Konzerthalle „Estadio Victor Jara“, in der, wie uns eine Stewardess am Vortag im Flugzeug mitteilte, abwechselnd Konzerte und Sportveranstaltungen stattfinden. Und dementsprechend sieht die Halle aus: rund um eine breite Bühne ragen Zuschauerränge über dreissig Meter in die Höhe. Beeindruckend! Gleich wie die Massen schwarzgekleidet und schön gestylter Menschen, die rund um das gesamte Gebäude auf Einlass warten.

Einige Stunden später ist es dann soweit. Nach zweieinhalb Jahren gebe ich Frank zum ersten Mal wieder das Zeichen, unser Intro starten zu lassen. Das Licht geht aus und ein wohliges Kribbeln breitet sich in meinem Körper aus, als die ersten Klänge des „Lacrimosa Theme“ die Halle erfüllen und augenblicklich im Applaus untergehen. Als schliesslich Anne die Bühne betritt, kann sich das Publikum kaum noch halten, und als der „Schakal“ beginnt, ist er wieder da, der unausweichliche, surreale, gefürchtete und doch ersehnte und immer durch und durch kompromisslose Moment, die Bühne zu betreten…

Und es ist schön hier in Santiago de Chile! Inmitten dieser unfassbaren Menschen, welche die Musik mit jeder Faser ihrer Seele und jedem Teil ihres Körpers erleben. Und schliesslich auch mit ihrer Stimme, als mehrere tausend Chilenen den deutschen Text von „Der Morgen danach“ so laut mitsingen, dass ich meine eigene Stimme kaum noch hören kann. Und ich denke, dass ich nie wieder undankbar, nie wieder unzufrieden sein möchte, und dass ich ein dankbarerer Mensch werden will, denn was wir hier erleben dürfen, ist reiner, unverdienter Segen!

Und wie so oft verfliegt die Zeit viel zu schnell und plötzlich finden wir uns im Backstage wieder, umgeben von Blumen, Textrollen und Harlekin-Puppen, mit denen wir während des Konzertes beschenkt wurden. Ein äusserst zufriedener Gustavon betritt den Backstage und bedankt sich für die Show, bevor er uns auf eine Aftershow-Party in einem Club namens „Blondie“ gegenüber der Konzerthalle einlädt. Man rät Anne und mir, der Einladung nicht nachzukommen, da bis zu zweitausend Menschen in dem Club Platz fänden und es zu gefährlich für uns sei. Meine Neugier ist aber zu gross, und so entscheiden wir uns, nur kurz vorbeizuschauen. Frank organisiert einen verschliessbaren Bereich innerhalb des Clubs und mit einigen Sicherheitsleuten nähern wir uns „Blondie“. Als man uns sieht, bricht ein für uns Europäer fast unbekanntes Geschrei und Chaos aus. Die ersten beiden Sicherheitsleute, die eine Gasse bilden sollten, werden in Windeseile von der Wucht der Menge weggerissen. Ich kann plötzlich nichts mehr sehen, habe auch Frank, Anne und die Anderen aus den Augen verloren. Nur noch ein Durcheinander von Händen und Gesichtern, es reisst und zerrt an meiner Kleidung, mein Hemd platzt auf und ich merke, wie ein Sicherheitsmann meinen Kopf nach unten drückt und ein Zweiter mich so fest umklammert, wie nur eine Mutter ihr Kind bei drohender Gefahr umklammernd zu schützen weiss, und erneut wird mir bewusst: hier ist alles eine Spur extremer! Zwischenzeitlich glaube ich nicht mehr daran, aber nach einiger Zeit erreichen wir den abgesperrten Bereich und ich frage mich, ob es wirklich eine gute Idee war, „nur kurz“ im Club vorbeizuschauen. Als Frank die Getränke organisiert, erwähnt er auf seine unnachahmlich ironische Art, dass wir in der Falle sitzen, und die Türen mit schreienden und Lacrimosa-Lieder singenden Menschen blockiert sind. Nun denn, Plan B: seine Idee, kleine Gruppen von bis zu fünfzig Menschen für jeweils limitierte Zeit hereinzulassen, und dieser Plan erweisst sich als perfekt. Wir verbringen einen wunderschönen Abend mit wahnsinnigen aber lieben Menschen, und wiegen uns gegen 3:00 Uhr in dem Glauben, „Blondie“ einigermassen unbeschadet verlassen zu können. Weit gefehlt! Rauszukommen wird noch schwieriger als reinzukommen…

Inzwischen sitzen wir im Flugzeug Richtung Brasilien und ich bin schon gespannt, was uns dort erwarten wird!

SÃO PAULO
Und die Erwartungen werden schon am Flughafen von einem herzlichen Begrüssungskomitee, bestehend aus Mitgliedern des brasilianischen Fanclubs und Mitarbeitern des örtlichen Veranstalters übertroffen.

Am nächsten Tag geht es quer durch die hügelige Zwanzigmillionen Metropole São Paulo zu einer für zweihundert ausgewählte Fanclubmitglieder limitierten Autogrammstunde, wobei es immer etwas Besonderes ist, die Menschen, die unsere Musik hören und die unsere Konzerte besuchen, wenn auch nur für wenige Minuten, persönlich kennen zulernen. Danach fahren wir zur Konzerthalle „Olympia“, einem der schönsten Venues, das ich je gesehen habe! Die Wände der Eingangsbereiche sind mit rotem Samt ausgeschlagen, von den Decken hängen Kronleuchter, die Balkone sind in gemütliche Logen aufgeteilt und in den Treppenaufgängen hängen die Bilder aller Künstler, die in dieser Halle bereits aufgetreten sind, und diese Namen beeindrucken: David Bowie, Alanis Morissette, Marilyn Manson, The Cult, Faith No More, Shakira, um nur einige zu nennen, und selbst das Musical „The Phantom of the Opera“ wurde hier bereits aufgeführt! Und beflügelt von diesem Ambiente und einem unfassbaren Publikum, das uns während des gesamten Konzertes mit frenetischer Begeisterung und auf enorme Erwartungen gestützte Offenherzigkeit begegnet, welche zerrt und fordert, aber auch inspiriert und antreibt, stossen wir zweieinhalb Stunden später im Backstage auf ein nahezu magisches Konzert an, dessen Zustandekommen wir zu gossen Teilen Lourdes Azevedo, der Leiterin des weltweit grössten Lacrimosa-Fanclubs, zu verdanken haben, die mit ihren Mitarbeitern grossartiges leistet.

Am nächsten Morgen geht es bereits um sechs Uhr früh zum Fughafen und weiter Richtung Mexiko.

MEXIKO CITY
Viel zu gut meint es Carlos de la Pena, unser langjähriger Konzertveranstalter in Mexiko, der uns bei der Ankunft auf Schleichwegen durch die Innereien des Flughafens zu einem Van und mit diesem zum Hotel schleusen lässt, während, wie wir später erfahren, im Flughafen weit über hundert Fans auf uns warten.

Dafür werden wir am nächsten Abend, Freitag den 30. Juli, im ausverkauften „Circo Volador“ auf jene liebevolle, warmherzige und enthusiastische Art begrüsst, die wir nun schon seit sechs Jahren in Mexiko erfahren und verspüren dürfen. Und während ich auf der Bühne stehe, kann ich förmlich spüren, wie akribisch dieses und die folgenden Konzert vorbereitet wurden. Seien dies die Gesichter der ersten Reihe, die mehr als tausend Wörter sagen, seinen dies die äusserst aufwendig gestalteten Plakate, die aus dem Publikum ragen, sei dies die Information des Veranstalters, dass vor der Halle bereits seit Tagen die Menschen campierten oder seien es die zahlreichen Verkaufsstände, die den sonst leeren Platz vor dem „Circo Volador“ zu einem wahren Jahrmarkt für Gothics verwandelt haben. Und so entwickelt sich das erste Konzert zu einem wahren Feuerwerk und die anschliessende Party zu einer äusserst Exzessiven.

Der zweite Abend in der erneut ausverkauften Konzerthalle wird zu einem weiteren Erlebnis und ich muss gestehen, dass mir so langsam die Superlativen ausgehen, so unfassbar verläuft diese wunderschöne Amerika-Tournee! Egal, wo wir spielen, das Publikum wird von Song zu Song frenetischer, die Stimmung von Takt zu Takt intensiver! Zwischen Publikum und Bühne entsteht eine inspirierende Wechselwirkung und katapultiert die Konzerte in magische Sphären. Unglaublich! So hat das Publikum eines jeden Landes, in dem wir in all den Jahren auftreten durften, seinen eigenen Charme, eigene Ausdrucksformen und seine eigenen Besonderheiten, die zwar nicht zu vergleichen oder in Konkurrenz zu stellen wären, da sie, gegründet auf der jeweiligen Kultur, Teil eines Landes und dessen Einwohner sind und aus dieser Unterschiedlichkeit ihre Einzigartigkeit beziehen, die aber aufzunehmen und auf der Bühne umzusetzen und zu verarbeiten, eine äusserst herausfordernde und faszinierende Angelegenheit ist. Und wenn dann ein mexikanisches Publikum die deutschen Texte von „Kabinett der Sinne“ oder „Stolzes Herz“ lauthals mitsingt, wenn Blumen, Briefe und Kleidungsstücke auf die Bühne geworfen werden und uns mexikanische Flughafen- oder Hotelangestellte ihre Lacrimosa-CDs zum signieren unter die Nase halten, während deutsche Touristen verwundert danebenstehen, ohne jemals von Lacrimosa gehört zu haben, dann entbehren zwar letztere Situationen schwerlich einer gewissen Komik, doch unterstreichen sie alle miteinander, welchen Stellenwert Lacrimosa in der Musikkultur dieses Landes inzwischen eingenommen hat. Warum und wieso? Ich weiss es nicht, und will es auch nicht wissen! Es ist wie ein Wunder, und so lange dieses anhält, will ich mein Bestes geben und es geniessen!

Das dritte Konzert im „Circo Valador“ findet bereits am Nachmittag statt, da es inzwischen Sonntag ist, und die zahlreichen Autobusse, die aus den verschiedensten Winkel dieses mächtigen Landes angereist sind, oftmals mehrstündige Rückfahrten bis in den morgigen Wochenstart vor sich haben. Und noch einmal gebe ich Frank das Zeichen, das Playback starten zu lassen und noch einmal hören wie die Sprechchöre, die uns wie Magneten aus dem Backstage locken. Fast wehmütig betreten wir noch einmal die Bühne des „Circo Volador“, unserer Heimat während der vergangenen Tage, um das Abschlusskonzert zu beginnen. Und dieses Konzert entwickelt sich zu dem anstrengendsten, in emotionaler wie auch körperlicher Hinsicht, wobei zu erwähnen ist, dass Mexiko City auf 2000 Metern Höhe liegt und die Nachmittagssonne ihr Übriges tut, aber auch zu dem inspiriertesten und intensivsten der gesamten Tour! Ein traumhafter Höhepunkt und Abschluss!

Nun sitzen wir im Flugzeug Richtung Heimat und ich lasse die letzten Tage Revue passieren. Es gibt viel zu verarbeiten! Vieles haben wir erlebt, im Grossen und im Kleinen, vieles haben wir gegeben, vieles bewegt und vieles bekommen und ich bin angefüllt davon, bin erschöpft, bin glücklich und auch ein wenig traurig. Und während unser Flugzeug einige tausend Meter über Florida die irdische Zeitrechnung überwindet, schliesse ich die Augen und trete noch einmal hinaus auf die Bühne…

Tilo Wolff, 24.07.2004 – 03.08.2004