Stille (1997)
Zaghaft durchdringen die Klänge schwingender Klaviersaiten die Stille dieses Morgens. Doch schon bald erhebt sich das Orchester und peitscht den Dunst über die Felder, und im Schein der ersten Sonne erstrahlen goldene Hörner im vollen Glanz ihrer warmen Töne.
„Der erste Tag“ setzt genau dort ein, wo „Der Kelch des Lebens“ des vorgängigen Albums „Inferno“ ein Ende fand: In der Glut, in der Asche, im Morgen danach! Kaum ist der Nebel verzogen, steigen die Ruinen hoch empor. Die Spuren der Verwüstung liegen ausgebreitet danieder. Keine Stimmen, keine Menschen. Die Schreie sind verstummt. „Stille“ erfüllt die Szene!
Bereits auf der Vorabsingle „Stolzes Herz“ konnte man den mitunter selbstkritischen Textpassagen aufmerksam folgen, die aus tiefster Dunkelheit ins Licht führten und mit Kraft und Lebensmut den Neuanfang ermöglichten.
„Stille“, das fünfte Kapitel, erzählt nun in über siebzig Minuten die Geschichte einer Sinneswanderung, und beginnt diese in „Der erste Tag“ mit der Selbstanalyse. Verstand und Gefühl finden ihr Zerwürfnis. Ängste werden definiert und Anklagen zur Kenntnis genommen. Dem folgt der Mut zur Vergebung, der Mut zur Selbsterkenntnis und die innere Festigung: „Not every pain hurts“. Geläutert wird mit manchen Feinden ins Gericht gegangen: „Siehtst Du mich im Licht?“ werfen Anklage und Verteidigung fragend auf, während sie, in der gleichen Waagschale sitzend, Lügen und Verleumdungen erörternd, deren Ursachen ergründen. Hass und Verzweiflung gehen dabei nicht selten Hand in Hand mit Ironie und Zynismus. Ganz anders verhält es sich mit dem sensiblen und selbstkritischen Blick auf eine unerreichbare Liebe: „Deine Nähe“.
Nach jedem tiefen Sturz zur persönlichen Entwicklung dazu lernen zu können, die Hoffnung zu bewahren, auch in der dunkelsten Nacht ein Licht suchen zu wollen und die Kraft zu finden, immer wieder erneut aufstehen zu können, das vermittelt der Titel „Stolzes Herz“ auch in der fast zwei Minuten längeren Albumversion unmissverständlich, und schlägt zugleich die thematische Brücke zu „Mein zweites Herz“, dasin einer sich erklärenden Form nicht nur zum Selbstzweck alleine schlägt, sondern gleichzeitig, wie der Titel bereits vermuten lässt, als einer der Schlüsselmomente, als ein Herzstück des Albums zu betrachten ist. „Make it end“ ist die radikale Abrechnung mit den Eindrücken, Hoffnungen, Fehlern und Erfahrungen des Durchlebten. Der Kampf um den eigenen Willen und das eigene Herz. Der Kampf um das eigene Leben und das Ende der Heuchelei und des Selbstbetruges. Keine Kompromisse!
Anschliessend bringt „Die Strasse der Zeit“ in einer nahezu fünfzehn minütigen Zeitreise den Kreis auf einer ungeahnten Ebene zum Schliessen, und verlegt das Geschehen auf eine imaginäre Strasse, die entgegen der Zeit in Richtung Vergangenheit beschritten wird. Und nach der Reise durch die Nacht vertreibt die Sonne jeden Dunst und es erwacht aus den Ruinen ihrer Väter eine hoffnungsschwangere Kultur.
Nach den Charterfolgen der vergangenen LACRIMOSA-Veröffentlichungen („Inferno“ steigt in die deutschen Album-Charts ein und verweilt dort für sieben Wochen, „Stolzes Herz“ erreicht Platz neun der deutschsprachigen Single-Charts), entpuppt sich das neue Album „Stille“ als unkonventioneller und extravaganter als seine Vorgänger, wenngleich eine stilistische wie auch inhaltliche Parallele zu den ersten Veröffentlichungen gezogen werden kann, die, unter Berücksichtigung der zusätzlichen Blickwinkel, im Weiteren jedoch die konsequente Ausreifung dessen zur Folge hat, was LACRIMOSA bislang angesprochen, beleuchtet und aufgegriffen hat, und somit eine differenziertere wie auch interpretationsfreudigere Betrachtungsweise zulässt. So wurde in den Hamburger Impuls Studios unter Mitwirkung des Barmbeker Symphonie Orchesters, des Rosenberg Ensembles und der Deutschen Lunkewitz SängerInnen ein Album eingespielt, das nicht nur inhaltlich, sondern im Besonderen auch musikalisch und produktionstechnisch eine über alle Massen anspruchsvolle Reife erzielt!